Wir haben es bereits angedeutet; am 30. März erscheint HATE#9 und wir machen eine Party, daher veröffentlichen wir in den nächsten Tagen nach und nach die Texte aus HATE#8. Los geht es mit Juri Sternburg:
Sammeln Sie Herzen?
Die Frage kommt etwas unvermittelt und ist außerdem etwas zu intim für meinen Geschmack. Morgens halb zehn in Kreuzberg – wo ist mein Knoppers? Reihe 7, Regal 9, bei den Süßwaren natürlich. Die Kassiererin erwartet wohl immer noch eine Antwort, aber nicht mit mir. Ob ich Herzen sammel’ und von wem die dann stammen und ob die gebrochen sind oder nicht, was geht das die Trulla an Kasse 4 an. Die Falckensteinstraße ist besonders Grau in Grau heute,
nicht mal die ein oder andere Messerschießerei erfreut das leidgeplagte Auge, die türkischen Nationalisten von Bozkurt a.k.a die Grauen Wölfe stehen selbst zu dieser unchristlichen Zeit wach vor ihrem Kaffeehaus, das war’s.
„Du machst schon den Mund auf wenn du nur lügst!“ sagt ein kleines Mädchen zu ihrer Mutter und tritt trotzig gegen den Kinderwagen des kleinen Bruders. Offensichtlich ist sie sich der Sprengwirkung einer solchen Aussage vollkommen bewusst, triumphierend stolziert sie nun den Bürgersteig entlang, vorbei an grimmig dreinschauenden Nationalisten, die sich rudelgleich um das Geschehen platzieren. Die Mutter hat schon wieder das nächste Problem an der rosigen Backe, der Schnuller des Benjamins ist durch den Tritt der aufmüpfigen Schwester in den Dreck gefallen. Nationalismus ist der Mutter also relativ Schnuppe, sie schimpft mit der renitenten Fünfjährigen und fährt einem der bärtigen Hünen über den Fuß. „Du bist schuld!“ ruft das kleine Mädchen amüsiert, dann biegen sie um die Ecke, dorthin wo meinem Auge unfreiwillig der Zutritt verwehrt wird.
Als bereits zugedröhntem, aber dennoch aufmerksamen Beobachter drängt sich einem der Gedanke auf, dass man vor einem Affengehege steht und auf die Fütterung wartet.
Verhaltensmuster bleiben eben Verhaltensmuster, das wusste schon der Biolehrer. Weltweit gibt es kein Land, in dem die Kinder nicht Verstecken spielen, und das muss einen Grund haben: die Mama!
Außer in Georgien vielleicht, denn dort nennt man den Vater „Mama“. Auch merkwürdig irgendwie, aber was soll man sich jetzt über Georgien auslassen, die haben’s so schon schwer genug mit ihrem Bruderkrieg, der Erfolglosigkeit ihrer Fußballnationalmannschaft und den dort Wache schiebenden Nationalisten – auch ohne Väter, die Mama heißen.
Väter, die Mama heißen gibt es zwar auch hier, doch dann stellt sich die ganze Situation deutlich schwieriger dar. Als aufgeschlossener Großstadthipster hat man natürlich mindestens einen solchen Fall in seinem näheren Umfeld. So auch bei mir.
„Aber wenn dein Vater schwul ist, dann wärst du doch nie geboren worden?“
fragte ich meinen besten Freund, als er mir von den besonderen Familienverhältnissen und den damit verbundenen Komplikationen berichtete. Damals war ich neun Jahre alt, und mein Unwissen somit ausreichend legitimiert. Dadurch nicht legitimiert ist in etwa die Tatsache, dass Guido Westerwelle gegen die steuerliche Gleichstellung von Homoehen gestimmt hat. Der gesichtslose Mob munkelt etwas von Parteilinie, aber ich kann versichern: Hier hat die Mutter die Hand im Spiel, unter Garantie. Die Mutter hat eh fast immer die Hand im Spiel, außer bei Diego Armando Maradonas Tor gegen England 1986, da war es ausnahmsweise mal die Hand Gottes, auch wenn der Unterschied eher marginal daherkommt.
Die Mutter bestimmt das Handeln, im Leben wie auf dem Basar.
Der Moment der Selbsterkenntnis des Kindes kann schockierend sein. Eine Freundin berichtete von einem „Beinahe-Nervenzusammenbruch“, als ihr auffiel, dass sie ihre Eltern beim Betreten ihres Berliner Cityappartements höflich bat, die Schuhe ordentlich abzutreten oder gar auszuziehen. Nun spricht es nicht gerade für ihre Leidensfähigkeit, dass eines ihrer großen Traumata eben dieses grausame Ritual des Schuheabputzens war, aber jedem Tierchen sein Pläsierchen; in Bottrop-Kirchhellen hat man eben oberflächliche Macken und ganz, ganz, ganz tief sitzende Ängste. Wenn die gleichen Eltern einem dann auch noch guten Geschmack attestieren, ist es nicht mehr weit zur nächsten Brücke.
„Guter Geschmack greift um sich, wenn die Phantasie stirbt“ zitierte die Freundin einen berühmten Schriftsteller und verfiel alsbald in eine weitere Depression, denn Frank McCourt ist mit Die Asche meiner Mutter der Klassiker unter den spießigen Lieblingsbüchern der Durchschnittseltern gelungen. Man hat es aber auch nicht leicht.
Ich ganz persönlich hatte das vordergründige Problem, linksradikale, atheistische, aufgeschlossene und überraschenderweise dennoch nicht vollkommen verwahrloste Eltern zu besitzen, was zu einem Defizit an Feindbildern und der verzweifelten Suche nach Reibung führte, denn fundamental-christlicher Neonazi oder verwahrloster Polizist zu werden, sind keine besonders schmackhaften Aussichten für einen Jugendlichen aus Kreuzberg.
Volle Fußballstadien waren eine der wenigen Möglichkeiten, meiner Familie ein Fragezeichen auf die Stirn zu malen. Immerhin etwas was sie nicht verstanden. Das Unangenehme an der ganzen Sache ist, dass ich jetzt lebenslang Hertha BSC-Groupie sein muss. Irgendwie nicht aufgegangen, der Plan.
Die in meiner Wohnung verteilten Jesus-Ikonen hängen wahrscheinlich auch nicht zufällig dort herum. So hat jeder sein Kreuz zu tragen. Andere trifft es weitaus schlimmer mit den unverarbeiteten Komplexen.
Die produzieren dann Installationen, und dann muss man sich ansehen wie auf dem einen Bildschirm eine Best of Cumshot-Compilation (unterlegt mit Karma Police von Radiohead) läuft, während auf dem anderen Fernseher ein kleiner Junge durch den Wald rennt und kläglich jauchzend seine Mutter sucht. Warum schämt man sich eigentlich für fremde Menschen?
Wenn man dann nicht dumm dastehen will, sagt man noch was Kluges dazu, ohne zu wissen, was in einem solchen Fall „was Kluges“ überhaupt ist. So geschehen vor kurzem. Neben einem stehen andere, ebenfalls verdatterte Leute, die auch Mütter haben müssen, und so fühlt jeder etwas anderes, während Cumshot auf Cumshot folgt und der Bub „Mama“ in einen Busch ruft.
„Ödipus Schnödipus, Hauptsache du hast die Mama lieb!“ Sowas hat meine Mutter gesagt.
Andere verdrängen ihre Mutter einfach, indem sie sich tagtäglich grübelnd in ihren Ohrensessel zurückziehen, weil ihnen die Lage der burmesischen Tanzbären in Laos zu schaffen macht oder der Öl-Engpass in den peruanischen Berggebieten. Beide Herangehensweisen haben ihre Vor- und Nachteile.
„Wenn ein Einarmiger und ein Contergankind ‘nen Schwimmwettbewerb veranstalten, wer wird wohl gewinnen?“, das sind die Fragen, die mich dann beschäftigen. Und an allem ist immer die Mutti schuld. Wenn nicht die eigene, dann die von dem grausamen Tunichtgut, der den burmesischen Tanzbären quält.
[...] gehen und sich dort das Stück “Wider die Natur! oder Die Desintegrationsmaschine” von Juri Sternburg [...]