Am Samstag startete die Tour de France und Doping spielt wie jedes Jahr eine große Rolle. Daher an dieser Stelle ein Artikel aus HATE#3, der das Thema mal in den rechten Kontext rückt:

Wenn es um Doping geht, ist in den Medien zumeist vom Radsport die Rede. In der Berichterstattung schwingt die offene Verachtung über eine verkommene, unmoralische Sportart mit. Sanktionen wie das Einstellen von TV-Berichterstattung und Sportfördergelder werden diskutiert. Matthias Appenzeller hat sich angeschaut, ob es in dieser Debatte überhaupt ein wahr oder falsch geben kann.

Die wichtigsten Rennen des internationalen Profiradsports werden, von Olympia abgesehen, nicht von Nationalmannschaften, sondern von Unternehmen finanzierten Teams bestritten, eignen sich also wenig für die nationale Erbauung. Der fähnchenschwenkende Durchschnittsdeut- sche konnte sich dementsprechend in der jüngeren Vergangenheit oft am Frühstückstisch zurücklehnen, die BZ hinlegen und über vollgepumpte Radler schwadronieren, wenn mal wieder ein Dopingtsunami über das Land schwappte. Kein prominenter Vorzeigedeutscher ist so tief in den Abgrund gestürzt worden, wie der ehemalige Tour-de-France-Gewinner Jan Ullrich und mit ihm gleich der gesamte Radsport. Von der alternativ-grünen taz, über das Lehrerblatt Süddeutsche Zeitung bis zur FAZ ist man sich einig: Sportliche Ethik ist eine Tugend, Verstöße dagegen werden mit Ausschluss aus der medialen Ku- schelgemeinschaft sanktioniert und die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender entdecken die Sippenhaft, indem sie eine ganze Sportart vom Bildschirm verbannen. Betrachtet man die Geschichte des modernen Dopings, dann stellt man fest, dass der Radsport eine wichtige Rolle im Entwickeln und Testen neuer Substanzen zur Leistungssteigerung spielte und spielt. So lässt sich der erste Dopingfall der modernen Sportgeschichte auf das Jahr 1860 datieren: Ein Radfahrer wurde dabei beobachtet, wie er Äther auf ein Stück Zucker träufelte. Allerdings dauerte es dann noch mal fünfzig Jahre bis Mediziner in der Lage waren, ein Verfahren zum Dopingnachweis zu entwickeln.

Warum die meisten Reaktionen mehr oder weniger prominenter Medienmenschen, Politiker und dem dazugehörenden Unterbau, dem Gejaule eines verlassenen Geliebten ähneln, mag mit einem grundlegenden Missverständnis zu tun haben: der romantisierenden Projektion auf den Sport als Ort von Tugend und Moral, wo sich der edle Athlet mit Seinesgleichen misst. Der moderne Profisport ist aber nichts anderes als (gut-)bezahlte Lohnarbeit mit einer umfassenden medizinischen Betreuung, der alle Mittel recht sind. Zu Beginn der Professionalisierung des Radsports war der Gebrauch von Aufputsch- und Schmerzmittel eine Reaktion der Sportler auf unmenschlich lange Radrennen. Distanzen von 600 km waren bei Eintagesrennen keine Seltenheit und Etappen bei der Tour de France waren bis zu 500 km lang.Auch die populären Sechstagerennen wurden vor hundert Jahren ihrem Namen gerecht: Sie bedeuteten für die Fahrer ein sechs Tage und sechs Nächte langes Rennen auf der Bahn, ohne nennens- werte Unterbrechung. Um die Anforderungen der Veranstalter zu erfüllen, war die Inanspruchnahme von Medikamenten vorprogrammiert. Insbesondere Kokain, Äther und Koffein erfreute sich der Beliebtheit bei den Fahrern. Während des Rennens wurde schwarzer Kaffee getrunken, der mit zunehmender Renndauer mit Kokain und Strychnin versetzt wurde. Gegen Atembeschwerden wurden Nitroglyzerin-Tabletten genommen und gegen Schmerzen Heroin. Nicht selten waren die Fahrer am Ende eines Rennens völlig weggetreten, griffen Zuschauer an oder bemerkten erst Kilometer vom Ziel entfernt, dass sie über selbiges im wahrsten Sinne des Wortes hinausgeschossen waren.

Es wurde mit allem herumexperimentiert, was im Ruf stand Schmerzen zu stillen oder schneller zu machen: Von Ephedrin über Amphetamine bis zu Adrenalin. Die ersten Radsportler begriffen sich auch weniger als Sportler, die um Ruhm und Ehre fuhren, son- dern als Arbeiter auf dem Rad, die unter schwierigen Verhältnissen (heute würde man wohl von prekären Arbeitsverhältnissen sprechen) das tägliche Brot verdienten. Sie kamen aus der Arbeiter- schicht, weshalb ihnen bei Versagen nicht die Rückkehr in den Schoß gut situierter Familien bevor- stand, sondern Maloche in Bergwerken und Fabriken.

Mögen sich die allgemeinen Verhältnisse bei weitem verbessert haben, so ist eine Existenz als Profisportler heute meist alles andere als ein Leben auf der Sonnenseite, Sam van Rooy formulierte dies vor ein paar Jahren als junger belgischer Profi so:

»(…) sie fahren gern, sie leben für den Radsport und die meisten genießen auch sehr das typische Interesse, das dem Radsport in unserem Land, oder lasst mich sagen im größten Teil Europas, entgegengebracht wird. Aber: Für neun von zehn Profis ist es vor allem eine bange Existenz mit wenig Sicherheit«

Außer in einigen Sportarten, in denen wenige sehr viel Geld verdienen (Fußball, Tennis, Formel 1), sehen sich die Athleten im Profisport gezwungen, in einem relativ kurzen Zeitfenster möglichst viel Geld zu verdienen. Meist ruinieren sie sich bei diesem Versuch die Gesundheit. Denn was in der Diskussion um Doping und Gesundheitsschädigung oft vergessen wird, ist die Tatsache, dass der Hochleistungssport an und für sich alles andere als gesund ist. Nicht selten endet eine Sportlerkarriere in der Invalidität. So werden wohl die wenigsten der ca. 500 Radprofis Europas langfristig ihre Existenz durch das Rennenfahren sichern können. Ähnlich ist das bei den Schwimmern, Kugelstoßern oder Biathleten. Der Anreiz sich zu dopen ist in diesen Sportarten naturgemäß nicht gering. Denn nur ein Olympiaerfolg spiegelt sich auch auf dem Konto wieder. Aber auch die Sportförderungspolitik in Deutschland kann als ein Anreiz zum Dopen interpretiert werden. Sportarten, die erfolglos in der Versenkung verschwinden, bekommen keine finanzielle Unterstützung des Bundes. Da sah sich schon der eine oder andere Sportler von seinen Funktionären dazu genötigt zur Spritze oder zur Pille zu greifen.

In den siebziger und achtziger Jahren wurde in der bundesrepublikanischen Politik ganz offen über die Notwendigkeit medizinischer Programme diskutiert, um der realsozialistischen Übermacht etwas entgegensetzen zu können. In Ländern wie der Sowjetunion und der DDR wurden Dopingme- thoden vom Staat entwickelt und umgesetzt. Die Moral und Ethik im Sport ist also durchaus an staatliche und gesellschaftliche Interessen gekoppelt und Doping ist dann eben nicht gleich Doping, sondern firmiert gerne unter dem Label »Nahrungsergänzung« und »Regenerationsunterstützung«. Die Entwicklung des medizinischen Tunings im Radsport war im zwanzigsten Jahrhundert eng mit der Entwicklung der pharmazeutischen Industrie verknüpft: Von Amphetaminen in den 60ern, über Anabolika in den 80ern, bis zu Epo in den 90er-Jahren. In all den Jahren wurde Doping, wenn nicht geduldet, so zumindest nicht thematisiert. Es entstand eine Art schweigende Übereinkunft zwischen dem Rennsport und den Medien. Nur wenn es einer übertrieb, wie Tom Simpson, der nach einem Kollaps infolge seines Alkohol- und Speedkonsums bei der Tour de France 1967 starb, horchte die Öffentlichkeit auf. Es ist aber selten die Gesundheit der Sportler, die im Mittelpunkt der Dopingdiskussion steht, sondern es sind moralische, erzieherische oder politische Erwägungen. So bringt es Stefan Voll, Leiter des Hochschulsportzentrums an der Universität Bamberg auf den Punkt:

»Denn Helden werden noch immer im Sport geboren, und Märchen werden auf den Spielfeldern der Welt Wirklichkeit. Die Faszination, alles erreichen zu können und der uneingeschränkte Schmied seines eigenen Schicksals zu sein, beschert dem Sport eine nahezu mythische Aura.«

So kommt es zur Vermischung von Sport, Ethik und Ökonomie. Um auf dem deregulierten Arbeitsmarkt bestehen zu können, greift der eine oder andere auch mal zu Helfern wie Kokain oder Speed und die frustrierte Hausfrau auf Antidepressiva darf in keinem Artikel zur Materie fehlen. Im Falle des Profisports ist es durchaus umstritten, was denn nun die Gesundheit der Sportler mehr angreift: Blutdoping oder 40 000 km Radfahren im Jahr? So kann man sich am Bodensee in einer Privatklinik für teures Geld einer Blutwäsche unterziehen, um die Zahl der roten Blutkörperchen zu erhöhen, die für den Transport von Sauerstoff verantwortlich sind. Im Fall des Radsportlers sollen so die Muskeln mit mehr Sauerstoff versorgt werden, um eine höhere Leistung länger aufrechtzuerhalten, der Gewinn für Ottonormalverbraucher liegt wahrscheinlich im nicht messbaren Bereich. Für die Regeneration der Radlerbeine bei dreiwöchigen Rundfahrten allerdings, dürfte der gesundheitlich positive Effekt des »Blutdopings« die gesundheitlich negativen Aspekte der Schinderei überbieten. Das berüchtigte Dopingmittel EPO sorgt übrigens für den selben Effekt, allerdings kann es bei übermäßigen Gebrauch auch schon mal zu Thrombosen kommen, weshalb Radprofis auffallend häufig des nächtens durch die Hotelflure hüpfen, um die Blutzirkulation wieder in Gang zu bringen. Ähnlich wie in der Drogenproblematik allgemein, eröffnet die Illegalisierung von Dopingmitteln dem Schwarzmarkt lohnende Perspektiven. So existieren ganze Netze von Medizinern, Apotheken und Betreuern, die Mannschaften und Sportler versorgen. Glücklich kann sich da derjenige Sportler schätzen, in dessen Umfeld professionelle Akteure agieren, denn nicht selten wird gepfuscht oder der Athlet greift selbst zur Spritze. Diese Vermengung aus Unwissenheit und Gewinnsucht verläuft leider gelegentlich auch tödlich. Insbesondere wenn dazu noch skrupellose Ärzte oder Betreuer ins Spiel kommen. So wurde dem berüchtigten Pot Belge ein Gemisch aus Amphetamin, Heroin, Kokain, Ethanol, Koffein, Acetylcodein, Papaverin, Ephedrin, Aspirin, Ethenzamid und Phenacetin – ein Mischkonsum, der den härtesten Raver alt aussehen lässt – verabreicht, ohne dass der Athlet um die Lebensgefährlichkeit der Mischung wusste.

Im Profisport erkennt man auch Prinzipien der heutigen Gesellschaft: Nur Leistung und Erfolg bringen weiter; nimmt man dafür Mittel, die der gesellschaftliche Konsens als unlauter definiert, wird der Konsument kriminalisiert. Es wird der Hamster bestraft, nicht das Hamsterrad. Und so wie der Junkie zu weiten Teilen mehr an der Illegalisierung der Drogen leidet, als an den Drogen selbst, so leidet der Profisport an der Doppelmoral und an ihn gestellten ethischen Erwartungen weit mehr, als am Doping selber. Denn schlussendlich ist es den gesellschaftlichen Verhältnissen geschuldet, was überhaupt als Doping definiert wird. Koffein steht beispielsweise seit kurzem nicht mehr auf der Dopingliste. Dafür zahlreiche andere medizinische Produkte. Bei jedem Arztbesuch muss die Dopingliste abgeglichen werden, Asthmatiker müssen sich ihre Medikamente genehmigen lassen. Der Antidopingwahn treibt auch Blüten, die jeden Bürgerrechtler und Datenschützer auf die Palme bringen sollten. So müssen sich Sportler über Wochen im Voraus über ihre Tagesabläufe im Klaren sein und diese minutiös den Antidoping- Agenturen mitteilen. Sollten sie im Falle einer unangekündigten Kontrolle an den angegebenen Orten nicht anzutreffen sein, hat das weit reichende Konsequenzen. Natürlich bleibt die Frage unbeantwortet, welcher Weg stattdessen gegangen wer- den soll. Denn solange es sportliche Wettkämpfe gibt, wird es auch immer Teilnehmer geben, die sich Vorteile verschaffen wollen. Selbst wenn alle Dopingmittel, unter ärztlicher Beobachtung, freigegeben werden, wird es ein niemals endender Wettlauf im Auffinden und Anwenden von neuen Produkten, Trainingsmethoden und Techniken bleiben. Aber auch wenn dies eine erschütternde Erkenntnis sein mag: Ist es nicht besser, der Tatsache ins Auge zu sehen und zum Wohle der Beteiligten auf überkommene Doppelmoral und Ideologie zu verzichten, und die Dopingpraktiken zu legalisieren, um die Sportler aus den Fängen ihrer als Sportmediziner getarnten Dealer zu befreien? Und ist es, angesichts der in Zukunft möglichen Dopingpraktiken, nicht längst ein Anachronismus sich über ein paar Medikamente im Blut zu echauffieren? Beim Gen-Doping werden die Wirkstoffe mittels Zellgewebe direkt in den Körper gespritzt, um Muskelgewebe wachsen zu lassen. Diese Art des Dopings dürfte nicht nachweisbar sein. Eine Gesellschaft, die auf den Fetisch der Unterhaltung setzt, sollte sich nicht dumm machen lassen von Rufen nach Selbstreinigung, Vorbildfunktion und Natürlichkeit des Sports. Es ist schlicht und ergreifend kapitalistische Normalität was sich in Arenen, Schwimmbecken und auf Rennstrecken abspielt. Ein Sportler, der sich dafür entscheidet, entscheidet sich doch mindestens genauso bewusst für ein schnelles, intensives Leben wie ein Rockstar. Aber wahrscheinlich werden sich auch diese in naher Zukunft einem Dopingtests unterziehen müssen.

Als Freund des Spektakels bleibt da nur eins zu sagen: If the show must go on, legalize the dope!

Category: Relevanz

Tagged: Doping, Tour de France

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2 Responses

  1. Sarah says:

    Meiner Meinung nach sollte jeder Sportler es als eine Art Ehre sehen, ohne Doping Bestleistungen zu bringen. Ich finde es regelreicht Feige mit Doping nachzuhelfen. Klar möchte man einen guten Platz erhaschen und klar geht es ums Geld, aber trotz allem geht es auch um den Stolz.

  2. Michael Sonntag says:

    “Es ist schlicht und ergreifend kapitalistische Normalität was sich in Arenen, Schwimmbecken und auf Rennstrecken abspielt.”

    Vollkommen korrekt. Wer im Profisport noch an Luftblasen wie “Ehre” und “Stolz” glaubt, der sollte vielleicht mal sein idealistisches Weltbild mit den Realitäten der kapitalistischen Gesellschaft abgleichen. Mag ja sein, dass manche Sportler/Fans wirklich in solch romantischen Kategorien denken aber das ändert am Hamsterrad an sich herzlich wenig.

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