Mutterschaft und Mord. Über den Topos der Kindstötung in Kunst und Wirklichkeit am Beispiel des Falles von Gertrude Baniszewski

Foto: Paula Winkler

Christiane Ketteler / Magnus Klaue

Wer von der Mutter als Mörderin spricht, assoziiert damit zumeist reflexhaft einige sensationsträchtige Fälle von Kindstötungen. In diesen tötet die Mutter stets ihr eigenes Kind zu einem Zeitpunkt, da sie zwar die biologische, aber nicht auch schon die soziale Mutter geworden ist. In der Forschung werden Kindstötungen nach dem Alter des Kindes unterschieden, Neonatizid etwa wird bestimmt als die Tötung eines Kindes innerhalb von 24 Stunden nach seiner Geburt, Infantizid als die Tötung eines Kindes im Alter von einem Tag bis zu einem Jahr und Filizid als die Tötung von Kindern über einem Jahr. Diese Differenzierung hat sich auch in der Rechtssprechung der meisten Länder niedergeschlagen. In England etwa ist im Jahre 1938 mit dem Infanticide Act die Anklage von Frauen, die ihr Kind im Alter von bis zu einem Jahr töten, von Mord auf Totschlag herabgestuft worden, sofern „the balance of her mind was disturbed by reason of her not having fully recovered from the effect of giving birth to her child or by reason of the effect of lactation“ . Die Tötung des Kindes wird als Folge eines durch die Geburt ausgelösten psychischen Schocks definiert, dem keine psychische Erkrankung vorausgegangen sein muss. Entscheidend ist immer das Alter des Kindes. In jenen Ländern, in denen der Infanticide Act gilt, müssen Täterinnen daher weniger häufig mit einer Gefängnisstrafe rechnen, sondern werden auf Bewährung freigelassen oder in psychische Behandlung gegeben. In den Vereinigten Staaten gilt ein solches Gesetz nicht.

In Deutschland ist die juristische Privilegierung der Kindstötung 1998 aufgehoben worden. Kindstötung bis zu diesem Zeitpunkt galt als die Tötung des nichtehelichen Kindes bei oder unmittelbar nach der Geburt. Diese Privilegierung gründete sich nicht allein auf die biologische Disposition, sondern auf die normative Ordnung der bürgerlichen Ehe.

Sie berücksichtigte die psychische Zwangslage der Mutter, ein Kind unter den Umständen der Nichtehelichkeit geboren zu haben. Die Tötung des Kindes wird also nach Maßgabe der bürgerlichen Reproduktionsideologie sanktioniert, anderseits aber gilt allein die Mutter als Täterin, nur sie wird bestraft oder therapiert.

In dieser juristischen Form verschwindet die Rolle der Vaterschaft genauso wie die gesellschaftliche Rolle der Mutter, sie wird als Einzelfall psychologisiert. Ebenso wenig Berücksichtigung finden die gesellschaftlichen und juristischen Möglichkeiten eines Schwangerschaftsabbruchs. Oft appellieren die Urteile ausdrücklich an das Ideal der gelingenden bürgerlichen Ehe, das diese Frauen eben gerade nicht erfüllten. Der Ausnahmefall setzt die Regel voraus. Die gesellschaftliche Sensationalisierung und Sentimentalisierung von Müttern als Mörder ist ohne den Muttermythos undenkbar, der bis heute nicht aufgelöst ist, sondern im Gegenteil gerade wieder auf die Agenda einer nun aber selbstbestimmten postmodernen Einordnung in die fortbestehende Unfreiheit gesetzt wird. Ein Kindsmord erscheint dieser populären Vorstellung einer gleichsam naturwüchsigen Mutterliebe, mit der die Zuständigkeit der Frau für die Kindererziehung legitimiert wird, als Abfall von der natürlichen Ordnung, der als pathologisch begriffen wird und überdies katastrophale traumatische Folgen für die Frau habe.

Dieser Diskurs durchzieht bis heute auch die Abtreibungsdebatten, in denen Frauen damit gedroht wird, dass ein Trauma nach dem Schwangerschaftsabbruch unvermeidlich sei. Der naturalisierten Frau als Mutter wird so weiterhin die selbstbestimmte Entscheidung darüber abgesprochen, wie mit der biologischen Disposition gesellschaftlich und individuell umgegangen werden kann, sie ist nur mehr eine frei Scheiternde. Das eigentliche Tabu des Muttermythos aber ist die soziale Mutterschaft, das Versagen und Scheitern einer Mutter lange nach der Geburt des Kindes. Wie jede Form häuslicher Gewalt gehörte die Gewalt der Mutter zu den lange unausgesprochenen und tabuisierten Bereichen der bürgerlichen Gesellschaft. In Deutschland ist dieser Bereich in den letzten Jahren vor allem durch Eingriff des Staates ins öffentliche Licht gerückt, aber nicht wirklich enttabuisiert worden.

Die heute in den Massenmedien ausgemachten Versager sind schnell identifiziert: alleinstehende Mütter, Hartz-IV-Empfängerinnen, oft mit Kindern verschiedener Väter. Rauf und runter bringen Kommunikationsmonstren wie die Supernanny diesen inferioren und leicht debilen Frauen ihre Mutterrolle bei, um ihnen die soziale Kälte technologisch abzutrainieren und ihnen beizubringen, keine Forderungen zu stellen, sondern sich selbst zu fordern.

Dass sie versagen oder versagt haben, ist nicht nur individueller Defekt der Frau, sondern Resultat einer misslungenen bürgerlichen Sozialisation oder eines ökonomischen Scheiterns. Es gibt kein Scheitern im Namen der bürgerlichen Gesellschaft, nur eines abseits von ihr.

Der Muttermythos, der in puncto Arbeitsteilung vor allem für bürgerliche Frauen einen empirischen Wirklichkeitswert besaß, machte aus der Frau eine gesellschaftlich unzulängliche Täterin.

Bis in die 1980er Jahre war jene Frau, die auch Mutter war, die Frau als Mutter und somit die in der Reproduktionsarbeit und der Liebe aufgehenden Person, abgeschnitten von der Sphäre der Lohnarbeit und des politischen Lebens.

Umgekehrt galt die Frau immer dann als sozial Scheiternde, wenn sie nicht Mutter sein wollte. In Deutschland hat sich diese Logik vor allem in der historischen Wahrnehmung des Nationalsozialismus niedergeschlagen. Frauen als Täterinnen und Mörderinnen blieben bis in die 1990er Jahre zunächst vollkommen unsichtbar, und dies nicht nur aufgrund der Normen einer „patriarchalen“ Wissenschaft, sondern auch als Abwehr- und Entschuldungsmuster von Frauen selbst. Die Schuldfrage der groß gewordenen 68er-Kinder richtete sich zunächst an die Väter, nicht an die Mütter. In den Massenmedien – zuletzt in dem Film Der Vorleser– tauchen Frauen zwar als Täterinnen auf, sind aber keine Mütter, sondern alleinstehende Frauen und Protagonistinnen faszinierend-abschreckender Liebesgeschichten, die ihre politische Verantwortung als Subjekte ausblenden. Dort, wo sich die Anklage gegen die Mutter richtete – ohnehin der Ausnahmefall –, wurde selten deren soziale und politische Rolle angegriffen, sondern ihr politisches (Fehl-)Verhalten als Scheitern in der Rolle als liebevolle, fürsorgende Mutter, womit Weiblichkeit implizit als Bereich geschichtsloser Privation dargestellt wurde.

Am bekanntesten ist wohl die Geschichte der Tochter Ulrike Meinhofs, deren einziges Kapital es war, das politische Urteil über ihre Mutter durch triviale Familiengeschichte zu ersetzen und die Kinder als Opfer einer hartherzigen Mutter zu inszenieren, um Ulrike Meinhof als scheiternde Frau nun noch einmal persönlich zu diskreditieren, statt sie als politisch verantwortliches Subjekt ernstzunehmen.

Während die europäische Kultur bis heute von der Imago des Entsagung fordernden Vaters geprägt ist, die in feministischen Diskussionen nicht selten mit einem vermeintlich besseren, „matriarchalen“ Gegenbild konfrontiert wird, zieht sich insbesondere durch die US-amerikanische Populärkultur das Bild der bösen, irren und fanatischen Mutter. Es lässt sich entziffern als Ausdruck einer patriarchal geprägten Gesellschaft, deren eigene Grundlagen zunehmend erodieren, ohne dass ihr Zwangscharakter aufgehoben würde. Väterliche Macht bedeutet nicht automatisch mütterliche Ohnmacht: Im Gegenteil erlaubt der Schutzraum der Kleinfamilie, in den die vom erwerbstätigen Vater abhängige Mutter während der Zeit seiner berufsbedingten Abwesenheit ohne entwickelte soziale Außenkontakte eingesperrt ist, der Mutter den Aufbau einer eigenen Herrschaftssphäre, die als „mütterlicher Aufgabenbereich“ vom Einfluss des Vaters getrennt bleibt.

Die ökonomische Ohnmacht der Mutter gegenüber dem Vater darf kompensiert werden durch die mütterliche Macht gegenüber den Kindern und dem Haushalt.

So entsteht im Zuge der Pathogenese der bürgerlichen Gesellschaft innerhalb der patriarchal geprägten Kleinfamilie ein eigenes Matriarchat: Ohnmacht und Furcht, die sie vom Vater erfährt, gibt die Mutter an die Kinder weiter, die dabei, selber immer schon prospektive Mütter oder Väter, ihren eigenen Platz in der Hackordnung zu akzeptieren lernen. Doch je weniger selbstverständlich die geschlechterspezifische Aufgabenteilung innerhalb der Familie ist, umso desolater wird diese Konstellation. Stellt sich der väterliche Herrschaftsanspruch angesichts der realen ökonomischen Ohnmacht des Vaters und der sozialen Entwertung seiner angemaßten Rolle zunehmend als fiktiv heraus, während die Mutter durch den wachsenden Zwang, ihre eigene Arbeitskraft zu verkaufen und die bloße Hausfrauenrolle aufzugeben, ihre erworbenen „mütterlichen“ Eigenschaften verliert, erfahren alle Beteiligten die innerfamiliären Rollen, die ihnen nie Freiheit, aber scheinbare Sicherheit gewährten, in wachsender Panik als nicht-identisch mit sich selbst. Weil diese Nicht-Identität wiederum nur als auferlegter Zwang, nicht als Möglichkeit der Freiheit erlebt wird, verwandeln sich die von ihren überkommenen Rollen freigestellten Familienmonaden in dissoziierte Wahnsinnige, die, was ein Zugewinn von Autonomie sein könnte, im eigenverantwortlichen Amoklauf gegen sich selbst und andere austoben.

Genau dieser Konnex zwischen väterlicher und mütterlicher Macht und Ohnmacht steht im Mittelpunkt zahlloser US-amerikanischer Thriller und Horrorfilme, zuvorderst der Filme Alfred Hitchcocks, dessen Psycho von 1960 vor allem deshalb als prototypische Amerika-Saga bezeichnet werden kann, weil mit Norman Bates ein schwacher, labiler Mann in ihrem Mittelpunkt steht, der von einer übermächtigen, aber toten Mutter beherrscht wird, deren imaginäre Macht als Prolongierung eines väterlichen Gesetzes erscheint, das in der Gegenwart keine Realität mehr besitzt und sich nur noch als Obsession, als über den Fetischismus der Mutter tradierter Wahn des Sohnes, fortzuerben scheint. Auch Marnie, vier Jahre nach Psycho entstanden, erzählt von einer zugleich ohnmächtigen und dominanten Mutter, von deren trauriger Vergangenheit die Titelfigur besessen ist und von der sie sich befreien muss, um zur „Frau“ werden zu können – was allerdings wiederum nur durch die in diesem Fall buchstäblich erpresserische „Hilfe“ eines Mannes gelingt, der Marnie befähigt, ihre Mutter zu besiegen, nur um sie daraufhin an der Mutter Statt als Ehefrau dem eigenen Hausstand einzugliedern. Robert Aldrichs grandioser Thriller Whatever Happened to Baby Jane? wiederum erzählt, ebenfalls wenige Jahre nach Psycho, die vater- und mutterlose Variante dieser Konstellation am Beispiel einer sadomasochistischen Schwesternbeziehung. Ähnlich sind sich all diese Filme darin, dass sie die konventionelle Vorstellung der Mutter als „Opfer“ des Patriarchats in Zweifel ziehen, indem sie ihr Recht geben:

Gerade die Ohnmacht der Mutterfiguren und ihrer Stellvertreterinnen ist es in diesen Filmen, die deren zerstörerische Macht begründet, gerade die Erosion der stabilen familiären Herrschaftsverhältnisse ist es, die, weil sie von den Figuren nicht im Sinne der eigenen Autonomie genutzt werden kann, den freiflutenden Wahnsinn aus sich hervorbringt.

Den Verästelungen dieses Motivs in der Filmgeschichte, etwa in seiner komödiantischen (Serial Mom von John Waters) oder in der Splatter-Variante (The Texas Chainsaw Massacre von Tobe Hooper), soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Bemerkenswert ist vielmehr, dass es selbst inzwischen tendenziell historisch geworden zu sein scheint. In An American Crime von 2007, der in seiner Dramaturgie und Thematik an verwandte, aber brutalere aktuelle Filme wie Eden Lake (2008) oder Them (2006) erinnert, wird nicht mehr die pathogene Auflösung der Kleinfamilie, sondern deren monströse Restitution mit dem Motiv der mörderischen Mutter in Verbindung gebracht, deren Opfer nicht mehr ihre eigenen, sondern fremde Kinder geworden sind.

Der Film von Tommy O’ Haver erzählt weitgehend faktentreu, auf der Basis von Prozessakten aus dem Jahre 1967, die Geschichte von Sylvia Likens (gespielt von Ellen Page), die gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Jennie von ihren Eltern, fahrenden Zirkusleuten, für die Zeit einer längeren Reise bei Gertrude Baniszewski („Gertie“), einer ärmlich lebenden, alleinerziehenden Mutter von sechs Kindern, in Obhut gegeben wird. Nach und nach macht Gertie Sylvia zum Sündenbock für alle sozialen Kümmernisse, persönlichen Versäumnisse und Ängste von sich selbst und ihren eigenen Kindern: Beginnend damit, dass Sylvias Eltern ihr das für Sylvias Versorgung zu zahlende Geld angeblich zu spät geschickt haben, erfindet sie immer neue, immer abwegigere Vorwände, um Sylvia zu bestrafen. Zunächst werden sie und ihre Schwester lediglich geschlagen, später verletzt sie Sylvia mit einem Flaschenhals in der Vagina, bringt ihr Brandwunden bei und sperrt sie in den Keller, wo sie sie hungern lässt und den Kindern und Jugendlichen der gesamten Nachbarschaft als „Spielzeug“ für unvorstellbare Sadismen zur Verfügung stellt. Als die erschütterten Eltern schließlich erfahren, was Sylvia angetan wurde, ist diese schon an ihren Verletzungen gestorben.

Den Rahmen des Films bildet die Erzählerstimme der toten Sylvia, die „ihre eigene Geschichte“ berichtet, sowie die Gerichtsverhandlung gegen Gertrude Baniszewski, bei der nicht nur sie, sondern auch viele der Beteiligten, mehrheitlich minderjährige Jugendliche, für voll schuldfähig erklärt werden.

Kate Millett hat in den 1980er Jahren die Geschichte der Sylvia Likens nicht nur dokumentiert, sondern umgeschrieben: „Denn ich war Sylvia Likens. Sie war ich. Sie war sechzehn. Ich war es gewesen … Seither hast du mich begleitet, eine Teufelssaat, ein Alptraum, mein eigener Alptraum, der Alptraum der Jugend, des Erwachsenwerdens eines weiblichen Kindes, des Frauwerdens in einer uns feindlichen Welt, einer Welt, die wir verloren haben und in der wir überall an unsere Niederlage erinnert werden. Was du ertragen hast, ein Sinnbild dafür. Dass es dir von der Hand einer Frau zugefügt wurde, der schlimmste Teil der Geschichte … Wer sonst könnte geeigneter sein, eine Kind-Frau zu zerstören?“ Kate Millett identifiziert nicht nur sich selbst mit der gefolterten und ermordeten Jugendlichen, sondern stilisiert sie zu einer Heiligen, die stellvertretend für alle Frauen Opfer gewesen sei. Die Mutter ist zwar die Täterin, als Täterin jedoch ebenfalls Opfer, die der Jugendlichen angeblich das antut, was ihr die Männer angetan haben: „Wie durchtrieben, dass der Wunsch der männlichen Gesellschaft, die Frau zu kastrieren, von Frauen als ihren Handlangern ausgeführt wird; Frauen, die in ihrer Jugend selbst verstümmelt wurden, verbittert und begierig zu garantieren, dass die jungen niemals jene Freuden erfahren, auf die sie selbst verzichten mussten … Weiblich sein heißt also sterben.“

Die Ahnung, dass das pure Faktum des Weiblichseins als Medium der Solidarisierung nicht hinreicht, schlägt Millett mit einem schnell gesprochenen Todesurteil über alles Weibliche nieder, um die Opfer- und Täterposition getreu der Binsenweisheit, dass im Tode alle gleich seien, im sentimentalen Jargon endgültig verschwimmen zu lassen.

Im Film dagegen erfahren wir nichts über die biografischen Ursachen der Taten Gertrudes. Auch das Opfer hat keine klar konturierte Geschichte außerhalb dieser Geschichte. Sylvia wird erstmals in die Familiengeschichte der Baniszewskis verwickelt, als ihr die leibliche Tochter Gertrudes unter Tränen gesteht, von einem verheirateten Mann schwanger geworden zu sein. Sylvia verspricht ihr, das Geheimnis zu wahren. Als die Tochter sich erneut dem Mann zuwendet, um ihm ihre Liebe zu gestehen, weist der sie schroff wie eine lästige Prostituierte ab und droht sie zu vergewaltigen. Sylvia wird Zeugin dieser Szene und unterbricht den Gewaltakt des Mannes mit den Worten „Sie ist schwanger“. Einer der Nachbarsjungen, ein verstockter Außenseiter und zugleich stiller Bewunderer Sylvias, hört diese Worte, und fortan verbreiten sie sich in der Schule. Sylvia, heißt es nun, habe das Versprechen gebrochen und verbreite schändliche Lügen über die Tochter ihrer Gastmutter. Ohne sich der Tochter zuzuwenden, ohne die Wahrheit erfahren zu wollen, nimmt Gertrude diese Gerüchte zum Anlass, den Sadismus ihrer Strafen für Sylvia noch zu steigern. Die Achtung und das Mitgefühl, das Sylvia ihrer Tochter entgegengebracht hat, wird von der Mutter im Beisein der leiblichen Tochter bestraft und exorziert.

Millett gestaltet hingegen Gertrude selber als symbolische „Mutter“ Sylvias und spricht an ihrer Statt einen inneren Monolog, der die Folternde und ihr Opfer in eine Beziehung zueinander setzt, statt die brutale Beziehungslosigkeit der Figuren herauszuarbeiten:

„Sylvia weigert sich einfach, das Leben ernst zu nehmen, seine Härten und Geheimnisse, den Willen Gottes, die Last. Ihre Aufgabe, die vor ihr liegt, ist, eine Frau zu sein. Es sieht so aus, als hätte sie nicht einmal den leisesten Schimmer, was das eigentlich bedeutet. Mein Unterricht führt zu nichts … Weil sie Widerstand leistet. Sie weigert sich, erwachsen zu werden, wirklich erwachsen. Sie möchte entkommen. Eine Ausnahme sein. Und genauso leichtlebig wie ein Junge. Ein Wildfang, das ist sie, möchte überhaupt keine Frau werden. Also muss ich sie zwingen.“

Umgekehrt konstruiert Millett durch einen inneren Monolog Sylvias eine Beziehung der Gasttochter zu Gertrude als Mutter und Frau: „Wenn einem eine Frau so was antut, ist es anders. Vor Männern habe ich mich schon immer gefürchtet, seit ich mich erinnern kann. Aber nicht vor einer anderen Frau. Einer Mama. Das ist es, warum mich Gertrude so weit gebracht hat, dass ich jetzt nichts mehr machen kann … Wenn ich sie nur umstimmen könnte, wenn sie mich vielleicht unter ihrer Gemeinheit doch auch echt gern hat …“ Im Film gibt es keine solche Ansprache Gertrudes als Mutter, auch keinen artikulierten Wunsch nach emotionaler Anerkennung durch die Gastmutter. Indessen wiederholt Gertie wie im Ritual zur Begründung ihrer Taten den Satz, sie wolle ihre „Kinder schützen“, auch ihr wesentlich jüngerer Liebhaber sagt gegenüber Sylvia zur Entschuldigung von Gertie, ihre Kinder seien ihr „das Wichtigste“. Anders als die früheren Filme über mörderische Mütter, anders aber auch als in der medialen Diskussion über Kindsmörderinnen, führt An American Crime drastisch vor Augen, was es angesichts des Zerfalls der bürgerlichen Familie allein bedeuten kann, die Familie weiterhin zum Fetisch zu erheben, und buchstabiert am Beispiel der sich selbst innig für ihr gesellschaftliches Schicksal bemitleidenden Gertie – symbolisiert in ihrem Asthma, dass sie durch Kettenrauchen verstärkt – die janusköpfige Allianz von Mutterliebe und Mord, Sentimentalität und Grausamkeit aus.

Sylvia, selbst keineswegs eine klassisch weibliche, „unschuldige“, sondern eine weitgehend leere Figur ohne konturierte Biografie, ohne klare Vorlieben oder Abneigungen, wird gerade dadurch zur Projektionsfläche für den Hass von Gertie und ihren Kindern auf alles, was sie auch nur entfernt an Glück, an ein halbwegs gelungenes Leben erinnert. Sylvia muss darum im Namen der „Familie“ selbst hässlich und unglücklich gemacht, verstümmelt und geschändet werden. Dass fast alle Kinder der Nachbarschaft sich begeistert an diesem Schändungsritual beteiligen, bestätigt, dass der Film Gerties Taten nicht nur als Resultat ihres persönlichen sozialen Schicksals, sondern als Kristallisationspunkt eines kollektiven Bedürfnisses deutet. Erst im kollektiven Verbrechen findet diese Gemeinschaft von Außenseitern zueinander. Der Skandal besteht nicht einfach darin, dass – wie Millett nahelegt – die Mutter und ihre Töchter Opfer einer patriarchalen Gesellschaft sind, sondern darin, dass an deren Verkehrsformen und Idealen weiterhin festgehalten wird trotz ihrer zunehmenden Auflösung und trotz der bestehenden Möglichkeiten, einen freieren, solidarischen Umgang miteinander auszubilden. Als die Mutter durch den Gemeindepriester auf die Schwangerschaft ihrer Tochter und den Verbleib Sylvias angesprochen wird, leugnet sie weiterhin die Schwangerschaft ihrer Tochter und behauptet, Sylvia in eine Erziehungsanstalt gegeben zu haben. Dieses bornierte, auf unheimliche Weise realitätsfremde Festhalten an der eigenen Lüge lässt sich in keiner Gemeinsamkeit, auch keiner „unter Frauen“, mehr auflösen. Es zeigt in erschreckender Deutlichkeit die Konsequenzen, die es hat, an einem Wertekanon festzuhalten, der nicht nur durch die eigene Erfahrung widerlegt worden ist, sondern auch gesellschaftlich teilweise bereits erodiert. Die Mutter, die sich in eben jener Weise, wie Millett es sich vorstellt, besinnungslos als Mutter und Opfer affirmiert, wird dem Film zufolge gerade dadurch zur Mörderin. Sie ist die Chiffre eines Hasses, der das Bestehende nicht abzuschaffen vermag, sondern es in der grund- und sinnlosen Tortur noch einmal bestätigt.

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