Foto: David Schmitt

Von NINA SCHOLZ

Vor fünf Jahren verwüsteten der Hurricane Katrina und die damit einhergehende Flut New Orleans. Darauf folgte die Katastrophe im Umgang mit der Katastrophe. Seitdem beschäftigen sich viele mit dem Thema und den Veränderungen in der Stadt, das führte zu einer neuartigen (pop-)kulturellen Lesart von New Orleans.

„Don‘t ask me about my fucking house.“ (Janette Desautel)
1.

Am 27. August 2005 erreichte eine Unwetterwarnung New Orleans, ein Hurricane zog über die Küste des Golfs von Mexiko Richtung Louisiana. Anfangs reagierte der Großteil der Bevölkerung von New Orleans gelassen, denn starke Winde gehören zur Routine, zur Geschichte der Stadt. Als Bürgermeister Ray Nagin sich dazu entschloss, zur Evakuierung aufzurufen, verließen die meisten Bewohner besorgt die Stadt.
Trotzdem gab es nicht wenige, die blieben. Das kann man unter anderem in Dave Eggers neustem Buch Zeitoun nachlesen. Der liberale Vorzeigeschriftsteller aus San Francisco hat es sich zur literarischen Aufgabe gemacht, erlebte Geschichte, also Realität, von Zeitzeugen aufzuschreiben. Und so erzählt er in seinem jüngsten Roman die Geschichte des Moslems Abdulrahman Zeitoun, der 1993 aus Syrien nach Amerika kommt, die amerikanische Muslima Kathy heiratet, mit ihr vier Kinder bekommt und sich einen gut laufenden Handwerker-Familienbetrieb aufbaut.
Am 28. August 2005 beginnt Kathy die Evakuierung ihrer Familie zu organisieren und macht sich auf zu Verwandten ins benachbarte Baton Rouge – allerdings ohne  Abdulrahman, der in New Orleans bleibt, denn er will sein Haus und die Häuser, für deren Umbau er mit seiner Firma verantwortlich ist, nicht zurücklassen.
Katrina kommt und zieht als Sturm, als düsterer Regen über New Orleans. Kurz und heftig, aber bei weitem nicht so schlimm wie erwartet, denn als der Hurricane das Festland erreicht, ist er schon wieder von Stufe 5 auf Stufe 3 zurückgefallen. Dann aber kommt das langsam und stetig steigende Wasser.
Fortan erkundet Abdulrahman Zeitoun mit einem Kanu die überflutete Stadt, die er anfangs fast als friedlich beschreibt. Zumindest im bürgerlichen Uptown, dem Stadtteil, in dem die Zeitouns leben, helfen sich die Menschen gegenseitig.
Aber es gab auch in den ersten beiden Tagen Anzeichen für Veränderungen in der Stadt: Zeitoun beobachtet Plünderungen, und sowohl die Polizei als auch die Nationalgarde, die an wichtigen Posten stehen, kommen nicht, um den Leuten in den überfluteten Häusern zu helfen. Der Evakuierungshubschrauber steht bloß defekt auf einem Parkplatz, und aus der Stadt gebracht wird niemand, der nicht schon vorher gegangen war.
Auch am vierten Tag kommt keine Hilfe von Außen, das Wasser wird dreckiger, beginnt zu stinken, Leichen treiben durch die Stadt und die Meldungen im Fernsehen klingen zunehmend schrecklicher. Zeitoun beruhigt Kathy, er hat gemeinsam mit drei Freunden ein Haus mit Telefonanschluss gefunden, und schafft es jeden Tag einmal, mit seiner Familie zu telefonieren und sie zu überzeugen, dass er auch weiterhin die Stadt nicht verlassen möchte; jede Hilfe wird jetzt gebraucht.
Doch dann geschieht das, was in Zeitouns Vorstellung nicht möglich gewesen wäre: Er wird aus dem Haus heraus von der Nationalgarde verhaftet, man liest ihm weder seine Rechte vor noch gestattet man ihm das obligatorische Telefongespräch. Die nächsten Tage verbringt Zeitoun mit seinen Freunden in einem provisorisch eingerichteten Gefängnis auf dem Parkplatz des Greyhound-Bahnhofs, später werden sie dann ins Elayn Hunt Correctional Center überführt, in einen Sicherheitstrakt für Al-Qaida-Terroristen.
Es ist ein Angstfehler, den die Polizisten machen, ein Panikfehler, ein Chaosfehler, weil sie glauben, sie hätten hier jene Terroristen vor sich, über die berichtet wurde, sie würden das Chaos in der Stadt für sich nutzen wollen. Ohne Meldung von ihrem Mann kalkuliert Kathy seinen Tod ein, zumal die Schreckensmeldungen über Gewalt und Krankheiten in der Stadt stündlich zunehmen. Sie nimmt an, ihr Ehemann wäre ein weiteres Opfer der Flut geworden.
2.
Auf eine sehr spezielle Art ist er das auch. Angesichts der Flutkatastrophe scheint es keine Einzelschicksale mehr zu geben, die nicht in diesem Ereignis aufgehen, sich nicht mit allen anderen verbinden und zu einer großen Erzählung über die Flut werden.
Diese hat der Regisseur Spike Lee in seiner vierstündigen HBO-Dokumentation When the Levees Broke eingefangen. Unterteilt in vier Kapitel erzählt er die Geschichte des überfluteten New Orleans, ein Epos über Trauer und Wut.
Im ersten Kapitel geht es um den Hurricane und die Flut. Zwei Mal war New Orleans bereits vor 2005 überflutet gewesen, zuletzt 1965, als der Hurricane Betsy die Stadt unter Wasser setzte. Damals wurden Kanalstraßen und Dämme in Auftrag gegeben, welche aber niemals komplett fertig gestellt wurden. Die nicht fertig errichteten Kanalwände brachen nicht bei Stufe 5, sondern bei Stufe 2. Keiner hat das präziser formuliert, als der fiktive Schriftsteller Creighton Bernette (John Goodman) in der HBO-Serie Treme, die am 11. April 2010 im amerikanischen Fernsehen gestartet ist. Er sagt in die Fernsehkamera eines Reporters: „What hit the Mississippi Golf Coast was natural disaster, a hurricane, pure and simpel. The Flooding of New Orleans was a man-made catastrophe. A federal fuck up of epic proportion.“
In ihrem Buch „Soziale Säuberung. Wie New Orleans nach der Flut seine Unterschicht vertrieb“ weisen Christian Jakob und Friedrich Schorb nach, dass in der Katrina-Katastrophe über 300 Jahre Stadtpolitik in einem Unglück kulminierte. Das, was Katrina genannt wird, ist eine Katastrophe, deren Ursachen sich mindestens bis in die Kolonialzeit zurückrechnen lassen, als die damalige französische Regierung zum ersten Mal regulierend in die Demographie eingriff. Die Sumpflandschaft um New Orleans lockte keine reichen Plantagenbesitzer, sondern sehr wenige und vor allem arme Europäer. Um das zu ändern wurde bewusst die Kultur der ursprünglich kreolischen Bevölkerung gefördert. Das was heute unter authentischer schwarzer Kultur in New Orleans verstanden wird und bis heute Touristen und Geschäftsreisende in die Innenstadt lockt.
1965, am Ende der Apartheid, gab es einen zweiten massiven Einschnitt in der Entwicklung der Stadt. Die Umlandgemeinden begannen, um die ärmeren Weißen zu werben, und so gab es in den 1970ern eine „regelrechte Fluchtbewegung“, die Bevölkerung New Orleans sank um ein Viertel: Zwei Drittel der weißen Bevölkerung hatten die Innenstadt verlassen. New Orleans war eine gespaltene, verarmte Stadt, als das Wasser anfing im Innenstadtkern zu steigen.
Im zweiten Kapitel von Spike Lees Dokumentation geht es um die Flut und es kommen die zu Wort, die in der Stadt geblieben sind. Es gab Gründe zu bleiben, wie die Geschichte von Zeitoun zeigt. Nicht jeder verlässt seine Stadt, nur weil der Bürgermeister es sagt. Aber es gibt eben auch solche, die gar nicht flüchten können: Weil sie kein Geld haben, weil sie krank sind oder sich um jemanden kümmern müssen. Viele Bewohner der ärmeren Projects, der Sozialwohnungsbauprojekte, die im flachen Innenstadtkern liegen, haben noch nie ihre Stadt verlassen und taten es auch nach der expliziten Unwetterwarnung nicht.
Danach konnten sie es nicht mehr: Auf der Brücke, die die Innenstadt von den Jefferson-Parishs, den größten Suburbs trennt, stand die bewaffnete Nationalgarde und hinderte die im Innenstadtkern Eingesperrten an der Flucht. Durch das steigende Wasser und die nicht stattfindenden Evakuierungen gab es bis zum fünften Tag nach Katrina keine Möglichkeit, die Stadt zu verlassen.
Der damalige Chef der NOPD, des New Orleans Police Department, Eddy Compass, wollte die politischen Entscheidungsinstanzen zum Handeln bewegen und erreichte das Gegenteil: Im amerikanischen Fernsehen berichtete er von innerstädtischen Riots, die es laut Augenzeugenberichten so nie gegeben hat. Er erreichte damit, dass die Panik noch größer wurde, vor den Fernsehern hatte man jetzt Angst „vor den Wildgewordenen“ in New Orleans.
Dabei war die Situation in der Stadt schlimm genug: Im Convention Center und im Superdome harrten über 10.000 Menschen, die sich dorthin geflüchtet hatten, ohne Essen, Wasser und Elektrizität über 5 Tage den Dingen, denn erst dann erschien General Russell Honore mit seinen United-States-Army-Truppen in der Stadt.
Von da an änderte sich die Situation, die Menschen wurden evakuiert und in andere amerikanische Städte gebracht. New Orleans wirkte danach auf den Bildern wie eine Geisterstadt aus einem Stephen-King-Roman: Leichen liegen auf dem Freeway, manche abgedeckt, viele nicht. An den Menschen, die die Stadt verlassen, klebt der Urin, Kot, das Blut der letzten Tage.
3.
Die Evakuierung war zwar ein wichtiger Schritt für die Menschen in New Orleans, dass damit die Probleme aber bei weitem nicht aufhören würden, davon handelt das dritte und vierte Kapitel in Spike Lees Dokumentation, aber vor allem auch die oben bereits erwähnte Serie Treme, benannt nach dem gleichnamigen Stadtteil.
Genau wie in seiner von den Kritikern hochgelobten TV-Show The Wire, die in den Projects in Baltimore spielt, hat der Serienschöpfer und -verantwortliche David Simon, gemeinsam mit seinem Kollegen Eric Overmyer, seinen Stoff pedantisch recherchiert. Jedoch geht er bei seiner aktuellen TV-Show bei weitem nicht so soziologisch vor. Treme ist eher die Charakterstudie einer Stadt und zeigt seine Figuren als exemplarische Fälle, denen Leben eingehaucht wird.
Die Serie setzt drei Monate nach der Flut ein. Chief Albert Lambreaux (Clarke Peters), Chef der Mardi Gras Indians, einer typischen New Orleans-Kapelle, kehrt in seine Heimatstadt zurück. Man sieht ihn durch sein von Wasser, Schimmel und Matsch zerstörtes Haus waten, bevor er sich entschließt, in seine Bar zu ziehen und diese statt seines Hauses wieder aufzubauen. Er arbeitet fortan besessen daran, dass hier bald wieder Musik erklingen kann und die Leute aus der Nachbarschaft wieder zusammen kommen können.
Die Musik selbst spielt in Treme die Hauptrolle und verbindet darüber hinaus die Charaktere miteinander. Oft verweilt die Kamera noch ein paar Minuten länger bei einem Jam oder einem Konzert, als es für die eigentliche Handlung nötig ist.
Noch mehr als in Zeitoun verschmelzen recherchierte Wirklichkeit und Dazuerfundenes in Treme. So sind die Figuren nicht nur Platzhalter, in denen Geschichte oszilliert, oft haben sie auch reale Vorbilder, immer wieder treten New Orleaner in Nebenrollen auf. Ein Psychologe erzählt in Spike Lees Dokumentation: „Es sterben immer noch Menschen an Katrina; sie haben Krebs, schlafen nicht, viele leiden unter Depressionen und Post-Stress-Traumata.“. Treme funktioniert nach Innen und nach Außen, ist beides: Aufklärung, aber auch Aufarbeitung. Die Bevölkerung nimmt regen Anteil an der Serie, die in vielen Lokalen als Public Viewing gezeigt wird.
Jeder in New Orleans kennt jemanden, dem es wie es der Barbetreiberin LaDonna Batiste-Williams (Khandi Alexander) geht, die immer noch kein Dach über dem Kopf hat, ihren Ehemann nicht zur Rückkehr überreden kann und ihren Bruder sucht, der, genau wie Zeitoun, im Katrina-Chaos der Justizbehörden geschluckt worden ist. Zuletzt wurde er in eben jenem Hunt-Gefängnis gesichtet, in dem auch Zeitoun saß. Dieser im Hochsicherheitstrakt, LaDonnas Bruder im Stadion daneben, in das evakuierte und neue Gefangene gebracht wurden und Tage ohne sanitäre Einrichtungen und Betten verbrachten; das berühmt geworden ist, weil Sandwichs über die Zäune geworfen wurden und die Insassen sich darum prügelten, während sie in ihren eigenen Exkrementen saßen.
4.
Ein großer Teil der Bevölkerung von New Orleans findet sich bestimmt auch in den Bemühungen von Chief Albert Lambreaux wieder, der versucht herauszubekommen, warum die Projects, in denen viele evakuierte und geflüchtete New Orleaner gewohnt haben, verschlossen bleiben. Immer wieder stellt er eine Frage an sämtliche Verantwortliche: Wohin sollen die, die zurückkommen wollen, die nach der Evakuierung verstreut über das ganze Land sind, denn heimkehren, wenn der eine Teil der Häuser zerstört ist und die Erhaltengebliebenen nicht wieder geöffnet werden?! Denn dank ihrer Lage in der Stadt und der soliden Bauweise konnte die Flut den Projects kaum etwas anhaben. Der amerikanische Katastrophenschutz FEMA sendet ihm einen weißen Trailer ohne Strom- und Wasseranschluss, einer von vielen, die noch heute über die ganze Stadt verteilt sind.

Bürgermeister Ray Nagin sagt in Fernsehtalkshows: „We have to rebuild smaller“, was übersetzt bedeutet: Dort wo Jahre lang die Projects waren, werden jetzt so genannte Mixed-Income-Bezirke gebaut. „Natürlich ist die Ghettoisierung in den Projects ein Problem, aber keins, das sich durch ihren Abriss, die Abschaffung und Errichtung sogenannter „Mixed Income“-Stadtteile lösen lässt. Man kann die Probleme, die mit Armut meistens einhergehen, wie höhere Kriminalitätsraten, nicht lösen, in dem man die Armen über die Stadt verteilt und ihre Wohnquartiere zerstört.“, argumentieren Christian Jakob und Friedrich Schorb. Vielmehr werde im Zuge dieser Entwicklung sogar der Anstieg von Armut, Wohnungsnot und Obdachlosigkeit in Kauf genommen: Durch die fehlenden Sozialwohnungen und den durch Katrina verursachten Wohnungsmangel fehlen bis heute günstige Wohnungen auf dem Markt. Zudem suchen viele ehemalige Hausbesitzer, die es sich nicht leisten können, ihre Häuser zu reparieren, nach neuem Wohnraum. „Die Sozialbausanierung ist nichts weiter als die Vernichtung dringend benötigten günstigen Wohnraums. Sie vertreibt die Unterschicht aus der Stadt, zerstört intakte und lange gewachsene soziale Netzwerke und ist nicht zuletzt auch ein Angriff auf die afroamerikanische Unterschichtskultur.“
Was die ehemaligen Bewohner der Innenstadtbezirke von New Orleans erleben, ist eine Express-Gentrification, die mit den gleichen Logiken und Argumenten, aber auch mit den gleichen Widersprüchen wie ihre langsamere Variante einhergeht. Bestimmt verstärkt der traumatische Bruch durch die Flut das „Früher war alles besser“-Gefühl noch.
Besonders gut werden diese diffusen Gefühle wiederum in Treme dargestellt. Der Radiomoderator Davis Mc Alary (Steve Zahn) foltert seine offensichtlich gut betuchten neuen Nachbarn mit lauter Musik, und als sie sich beschweren, schreit er sie an „You live in the Treme, you gotta deal with that shit. It‘s the most musical neighbourhood.“ Doch die beiden kommen selber aus New Orleans, kennen sich ebenso gut mit der Musik aus wie er. Sie sind bewusst aus Uptown, dem Bezirk, in dem auch die Zeitouns lebten, hierher gezogen. Sie nennen es „historical preservation“, Davis nennt es Gentrification und sagt: “I just want my city back.“
Überall in der Stadt finden diese Kämpfe statt: Die neuen wohlhabenden Bewohner der Garden City tragen beispielsweise zum erhöhten Steueraufkommen und somit zum Wiederaufbau bei, viele sind aus solidarischen Motiven dorthin gezogen. Trotzdem zerstören sie den günstigen Wohnraum, lassen für Alteingesessene den Traum ihrer ehemaligen Stadt endgültig platzen.
Besonders der Tourismus ist von diesem Widerspruch betroffen. In einer Szene in Treme stehen die Mardi Gras Indians vor einem zerfallenen Haus und spielen den Beerdigungswalzer für einen Freund, den sie in der Stadt geborgen haben. Ein Bus voller Touristen, auf dessen Vorderseite „Katrina-Tours“ steht, hält an und der Busfahrer ruft der Band freundlich zu: „People wanna see what happened! Is that your house?“
Die Stadt hat sich verändert, tut dies auch weiterhin, und diese Veränderung produziert neue Zeichen. Der aus New Orleans stammende Wendell Pierce, der in Treme den Trompeter Antoine Batiste spielt, erzählt in When the Levees Broke: „It‘s so weird to go through my neighbourhood and see the markings – no bodys, no bodys – and suddenly there‘s a number on the shallow of a house, saying two. Right around where I live two people died. And then it‘s so definitely quiet.“ Die Markierungen, über die er spricht, sind Xe auf den Häusern, aufgemalt von den Suchtruppen, die geborgene, gefundene Menschen oder Leichen markieren. Dieses ist ein solches Zeichen, das für ein neues New Orleans steht.
5.
Aber nicht nur die Berichterstattung und die Zeichen verändern sich. An gleich zwei großartigen Filmen des letzten Jahres lässt sich ebenfalls eine deutliche Veränderung ablesen: In Werner Herzogs The Bad Lieutenant: Port of Call New Orleans (2009) läuft Nicolas Cage als drogensüchtiger Polizist durch ein New Orleans, das abwechselnd einer grellen und einer düsteren Einöde gleicht. Die Highways, Hinterhöfe und Apartmentkomplexe erinnern an traumartige Orte, und der eigentliche Mord, den es aufzuklären gilt, tritt immer mehr in den Hintergrund. War Abel Ferreras Bad Lieutenant (1992) noch in New York angesiedelt, kann man Herzogs Entscheidung, seinen Protagonisten durch New Orleans stolpern zu lassen, als deutliches Statement lesen.
Ganz ähnlich ergeht es dem ebenfalls heruntergekommenen Detective Dave Robicheaux (Tommy Lee Jones), der von Betrand Tavernier im Film In the Electric Mist (2009) bei schwüler Hitze durch die New Orleans umgebenden Sümpfe geschickt wird und bei dessen Ermittlungsarbeit Vergangenheit und Gegenwart zu einer einzigen halluzinogenen Wahrnehmung verschmelzen.
Hier ist ein deutlicher Bruch zu verzeichnen, affirmierten frühe Filme über New Orleans vor allem an die romantische Darstellung des Südens, betonten das Klischee der Musikstadt New Orleans mit Musicalthemen oder kombinierten beide Komponenten. In späteren Filmen wie The Big Easy (1986) wurden ebenfalls kaum zu ertragende Klischees aufgefahren: Schwarze Verbrecher, gutes Essen, weiße Cops und naive Frauen bildeten seine Zutaten.
Glücklicherweise gibt es in der Popkultur derzeit ein Entdecken der Südstaaten, das nicht alleine in New Orleans halt macht und mit den alten Klischees und Darstellungen bricht. Davon zeugen unter anderem die Vampirserie True Blood, die ebenfalls in Lousiana spielt, oder die Football-Show Friday Night Lights aus der fiktiven Stadt Dillon in Texas. Beide stellen Rassismus und Ausgrenzung immer wieder als Problem in den Vordergrund ihrer Handlung.
Angesichts der Katastrophe und ihrer Darstellung ist es also kein Wunder, dass sich New Orleans und Post-Katrina zu kulturellen Lieblingsthemen der amerikanischen Liberalen entwickelt haben. Während sich die Konservativen an 9/11 ergötzen, zeigen die Liberalen hier mit Vorliebe, was ihrer Meinung nach schief läuft in Amerika. In der Diskussion um die Stadt kulminieren die verschiedensten aktuellen politischen und kulturellen Debatten; einerseits wird der Vorwurf des Rassismus, der Ausbeutung einer armen, vornehmlich schwarzen Kultur laut, anderseits wird aber auch der Fetisch der Musik, der Clubs und der afroamerikanischen Kultur in der Stadt gepflegt. Immer wieder liest man aber auch, besonders in den Gesundheitsdebatten, von zu fettem Essen, einer unfitten Bevölkerung und zu viel Alkohol- und Drogenkonsum. Man ahnt den liebevoll gemeinten Zeigefinger des weißen, amerikanischen Norden, der es doch nur gut meint mit den Menschen in New Orleans.
Dem fiktiven Schriftsteller aus Treme, Creighton Bernettes, empfiehlt  seine New Yorker Lektorin, als nächstes ein Buch über New Orleans zu schreiben, Katrina hätte die Stadt wieder auf die kulturelle Landkarte gehoben. Darauf antwortet Bernette: „It wiped it off the map, actually.“. Keine Unterhaltung beschreibt besser, um was es jetzt geht. Nach dieser Katastrophe muss erst einmal das Erlebte erzählt werden, bevor Geschichten erfunden werden können. Die Widersprüche, der Schmerz, die Trauer und das Entsetzen müssen verhandelt und das kulturelle Terrain neu entdeckt werden. Somit ist das journalistische Erzählformat von David Simon und Dave Eggers bestens gewählt. Es ist eine neue Zeit eines veränderten Erzählens über den Süden der USA angebrochen, das sich nicht mehr in der Glorifizierung des Ol‘ South ergeht, sondern vielfältige Facetten, Brüche, Abgründe und Schönheiten zeigen will.

Category: Magazin

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