Bild: radiolounge
Heute, da sich alle an ihre Schirrmacher-Momente erinnern, frage ich mich, wie denn meine Schirrmacher-Momente aussahen. Hatte ich überhaupt welche? Im Regal liegen jedenfalls haufenweise Schirrmacher-Texte, ausgerissen, kopiert und aufgehoben, um sie einmal zu lesen. Selten bin ich dazu, häufig nicht über die ersten drei Absätze hinausgekommen.
Habe ich also diese Schirrmacher-Momente verpasst? Habe ich die FAZ, die zu lesen zum guten Ton gehört, weil die Zeitungsbesessenheit eines Rainald Goetz es vorschreibt, zu unaufmerksam gelesen? Fehlt mir die nötige intellektuelle Selbstdisziplin, mit der allein man es schafft, Themensetzungen und Argumentationen, die man selbst für irrelevant oder abwegig hält, auszuhalten, um im Weltdeutungskampf beweglich zu bleiben, und nicht zu verblöden?
Schirrmacher stand immer übergroß da: im Feuilleton der FAZ spätestens seit der intellektuellen Abwicklung der Wende sogar ganz vorn, Totalitarismus-Debatte relaunched, eine „Studie über den autoritären Charakter“, diesmal über DDR-Intellektuelle; ganz schnell an der technikskeptischen Front als es gegen all die Gerätschaften ging, die den Alltag kolonisieren, Payback, „Mein Kopf kommt nicht mehr mit“; oder ganz nah als, „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“, die Krise kritisch wurde. Immer auf der Höhe der Zeit, wie es nun heißt, mischte Schirrmacher mit. Warum nur wurden keine Schirrmachermomente draus?
Das Gute und Schöne an Schirrmacher war ja vor allem, dass er immer die Instanz abgab, nach der man sich eben nicht zu richten hatte. Man glaubte, zu wissen, wo der Gegner steht. Das umgekehrte Fandom war fundamental wichtig zur Selbstvergewisserung. Man traf sich, wo er nicht stand.
Es gibt tatsächlich wenige, deren Texte so viele Gegen-Texte hervorbrachten: Urspaßige wie im Merkur, der Schirrmachers Rechtschreibfehler zählte. Brutalphilologische wie von Rembert Hüser, der die Legende von „Schi“ aufdröselte. Die manischen Rainald Goetz’ sind Legion.
Diese Texte las ich und hob sie auf. Nicht nur, weil hier Schirrmachers absolute Debattenhoheit groteske Schatten warf, oder weil es so aufregend anzuschauen war, wie die Leute sich abrackerten, um auf der richtigen, eben nicht auf Schirrmachers Seite zum Stehen zu kommen. Es waren Anti-Schirrmacher-Momente, die das Feuilleton-Lesen zum notwendigen Standpunkttraining machten. Aber wer kann jetzt noch Bezugspunkte setzen? Nach wessen Position kann man nun fragen, um die Antwort für seine eigene zu finden? Was schreibt Schirrmacher zu diesem, wie positioniert sich sein Feuilleton zu jenem? Die Frage wird unbeantwortet bleiben. Diese Anti-Schirrmacher-Momente werde ich vermissen.
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