Mythos Natur, Mythos des Wissens - Unsere entmystifizierte Moderne
Nisaar Ulama

Die meisten Versuche, unsere Zeit in Gedanken und damit in einen Begriff zu fassen,
münden in einer Variante des Schlagwortes ›Wissensgesellschaft‹. Mit dieser nichts sagenden Selbstbeschreibung ist eine Kultur gemeint, die sich berauscht an ihrer Fähigkeit, immer schneller zu wissen, was der Fall ist: Wir leben in einer durch und durch informationsbesessenen Moderne.

Diese Moderne ist hochgradig irritiert von Wissensformen, die sich ihrer Beschleunigungsmaschinerie entziehen. Alle Formen der Erkenntnis, die sich nicht zum Rohstoff ›Daten‹ eindampfen lassen, werden zunehmend zu einer Provokation –wenn sie denn überhaupt zur Kenntnis genommen werden. Wissen ohne Ursprung wird nicht geduldet. In diesem Sinne zeigt sich hier eine perfektionierte Aufklärung. Denn deren Projekt verstand sich immer schon als Entmystifizierung.
Deswegen können alle religiösen, ethischen oder ideologischen Einwände, die gegen eine totale Vermessung der Welt vorgebracht werden, mit souveräner Lässigkeit als irrational denunziert werden. Doch die Vermessung allein reichte noch nie aus. Sie war immer nur der Anfang. Spätestens seit den großen Mobilmachungen des 20. Jahrhunderts weiß man um den Wert der Verfügbarkeit allen Wissens. Daher bedeutet Aufklärung heute: Entmystifizierung durch Demokratisierung des Wissens. Auch Raum und Zeit, die letzten elitären Schranken der Welt, werden bald überwunden.
Es schwingt hier die Hoffnung mit, dass sich diese Demokratisierung der Informationen auch auf tatsächliche, politische Zustände auswirkt: Wenn Alle alles Wissen können, dann, so das Kalkül, kann es keine Geheimnisse und damit auch keine Asymmetrien der Macht mehr geben. Aus dieser sehr optimistischen Perspektive entspringt die breite Begeisterung für Projekte wie Wikileaks, für die jede Form von Intransparenz eine Provokation darstellt.
Doch diese Fixierung auf absolute Information stellt natürlich nur einen Teil jener verhängnisvollen Geschichtsbewegung dar, die schon wesentlich früher als die ›Dialektik der Aufklärung‹ beschrieben wurde: In der Besessenheit auf Erfassung und Rationalisierung aller Erkenntnis schlägt die Vernunft in einen Begriff von Wissen um, der sich allein am Positiven orientiert.
Dieser Umschlag macht sich aber noch durch eine andere Entwicklung bemerkbar. Die Medaille einer sich explosionsartigen Verbreiterung des Wissens hat auch ihre antidemokratische Kehrseite: Das ist die privilegierte Position, die der Experte einnimmt. Er ist aus jeder Öffentlichkeit nicht mehr wegzudenken. Keine Austausch von Meinungen, in der er nicht die ihm zugewiesen Rolle spielt: Über den Niederungen des politischen Meinungskampfes stehend, ist er allein den Tatsachen verpflichtet und berichtet von der Natur der Dinge.
Die Begründung seiner zentralen Funktion wird uns häufig genug vorgesetzt:.Keine Sonntagsrede zur geistigen Situation unserer Zeit, in der beklagt wird, dass unsere Welt immer komplexer werde – und wir deswegen auf eine kompetente Orientierung angewiesen sind. Doch man sollte sich nicht täuschen: Experten stellen bloß die etwas weichere, von Vornherein auf Öffentlichkeit bedachte Version des Wissenschaftlers dar. Ihre Funktion besteht also nicht in einer bloßen Partizipation, sondern in der Legitimation gewisser Tatsachen.
›Wirklichkeit‹ ist trotz aller Demokratisierung des Wissens etwas, das durch einen Experten abgesegnet werden will. Dies besticht umso mehr, wenn man sich vor Augen führt, wie nah unser Begriff von Wirklichkeit eigentlich immer noch an ›der Natur‹ liegt.

Eine von der Natur befreite Politik
»Wenn die leidenschaftlichen Ökologen schaudernd ausrufen: ›Die Natur wird sterben‹, so wissen sie nicht, wie Recht sie haben. Gott sei Dank, die Natur wird sterben. Ja, der große Pan ist tot! Nach dem Tode Gottes und dem Tode des Menschen mußte auch die Natur endlich abtreten. Es war an der Zeit: sonst hätte man bald überhaupt keine Politik mehr machen können.«
Bruno Latour

In der Tat. Die Natur ist mehr denn je Gegner der Politik. Man sollte sich nicht von dem Umstand irritieren lassen, dass auch genau das Gegenteil wahr ist: Nichts hat der Natur so zugesetzt, wie die Politik der bedingungslosen Nutzbarmachung des Planeten. Es hilft, sich in Erinnerung zu rufen, dass
unsere romantische Vorstellung einer unberührten, natürlichen Ordnung, die es zu schützen gilt, recht jungen Datums ist.
Die wesentlich ältere Variante ist selbst schon wieder Mythos. Ich meine jene griechische Parabel, die maßgeblich unser Verständnis von Wissenschaft begründet hat: Das platonische Höhlengleichnis, nach dem der gemeine Mensch eigentlich sein Leben lang ein ahnungsloser Naivling bleibt, der nichts von Wissen weiß, sondern nur Meinungen hat –würde er nicht eines Tages Bekanntschaft mit der Philosophie machen. Ihre Botschaft besteht eigentlich in einer ungeheuerlichen Unverschämt, denn sie verkündet, dass echte Wahrheit nur in einer Welt ›dort draußen‹ zu finden sei. Für Platon waren das abstrakte Ideen in ihrem reinen Sein. Aber gemeint ist letztlich bloß eine Natur der Dinge, die sich nicht beeindrucken lässt von persönliche Meinungen oder Traditionen. Damit ist eine neue Wertskala diktiert: Politik, verstanden als öffentliche Aushandlung von Überzeugungen und Interessen, bleibt nichts anderes als das Geschwätz einer Höhle, einer Welt, die den Schein nicht vom Sein trennen kann.
Doch die eigentlich interessante Pointe liegt in dem Vermittler zwischen beiden Welten. Nur der Mensch, der die Weisheit liebt, kann die Höhle verlassen und ihrem vergänglichen Geschwätz die kosmischen Wahrheiten der Natur entgegensetzen. Aus diesem Philosophen mag irgendwann der Wissenschaftler geworden sein. Heute ist es der Experte, der uns erklärt, was unabänderlich richtig und falsch ist. Sein eigentlicher Auftrag: Er ist Agent der Natur.

Die Desavouierung der Politik durch die antike Philosophie ist nicht so folgenlos geblieben, wie man es bei einer Zeitspanne von beinahe zweieinhalbtausend Jahren erwarten könnte. Denn der Modus Operandi ist immer noch derselbe: Erst die Expertise und ihre Legitimation durch die Natur der Dinge macht die Wirklichkeit. Dagegen ist jede Form von Überzeugung machtlos.
Jede Frau weiß von dieser Front zwischen Politik und Natur zu berichten, wenn spätestens mit einer Schwangerschaft allein die – selbstverständlich von Experten erforschten – natürlichen Gegebenheiten ihr Leben bestimmen. In diesem Sinne ist Élisabeth Badinters Strategie vollkommen korrekt. Für eine Emanzipation der Geschlechter müssen zuerst die Ketten der Natur gesprengt werden.
Abgewöhnung des Denkens
Dass wir das Prinzip der Wirklichkeitslegitimation durch Expertise inzwischen weitestgehend widerspruchslos inthronisiert haben, lässt sich nun an einem ganz anderen Phänomen beobachten: an der unheimlichen Strahlkraft, die Zertifikate im Allgemeinen und das Siegel ›Bio‹ im Besonderen auf uns ausübt. Für Lebensmittel gedacht, hat es sich längst in allen Nischen unserer bunten Konsumwelt breit gemacht. Wir warten nur noch auf den ersten Bio-Porsche.
Hinter der Sehnsucht nach Natürlichkeit steht klarerweise der Ekel vor einer defekten Moderne, die Tiere und Maschinen längst gleich behandelt. Insofern stellt der jüngste Skandal um Industriefette im Hühnerfutter keinen Unfall dar, sondern einer jener Eruptionen der Realität, von denen wir uns schnell wieder abwenden wollen.
Der Versuch, wieder in den heimeligen Schoß von Mutter Natur zu kehren, ist natürlich nicht neu. Aber die Breitenwirkung ist doch erstaunlich. Vielleicht liegt es den gekürzten Ansprüchen. Schon die aktuelle Erfahrungsliteratur, deren Autoren von ihren Entbehrungen berichten, mutet in ihrem Bescheidenheit fast grotesk an. Zu New-Age-Hochzeiten musste es schon ein pharmakologisch stimulierter Bewusstseinsexzess am anderen Ende der Welt sein. Heute beeindruckt schon ein Jahr ohne Wurst oder Telefon.
Doch interessanterweise führt diese vermeintliche Abkehr von der Industrie nicht zu einer Stärkung des persönlichen Urteils oder des Geschmacks. Diese scheinen im Gegenteil dermaßen abgestumpft, dass wir lieber einem letztendlich doch nur rein technischen Biogütesiegel vertrauen. . Das führt zu einer kuriosen Ontologie unserer Lebensmittel.
Die Runkelrübe aus dem Biomarkt (der inzwischen auch Lidl heißen darf) ist nicht etwa besser als die Runkelrübe aus dem Supermarkt (der natürlich sowieso Lidl heißt), weil sie größer, schöner oder gar leckerer wäre, sondern weil sie wesensverschieden ist: eben ›BIO‹. Wir gehen also von einer Essenz unserer Nahrung aus, die uns Gutes von Schlechtem unterscheiden lässt.
Das Urteil wird aber eben nicht durch subjektive Qualitätsurteile – wie etwa ›Geschmack‹ – gefällt. Es gilt allein das Zertifikat, und ›BIO‹ ist ja dabei nur das höchste aller Siegel. Kein Wein ohne Verweis auf seine Parker-Punkte, kein Tiefkühlgemüse ohne Stiftung-Warentest-Benotung. Dazu kommen Ernährungstabellen, die das Paradox vollenden. Alles Unbekannte soll der Nahrung ausgetrieben werden. Auf das Mikrogramm genau muss die Natur vermessen werden –die dann freilich alles ist, nur eben nicht unberührt. Erst die Zertifizierung durch allerlei bunte Aufkleber, die ja letztendlich nichts anderes sind als Stempel eines Experten, macht aus einem unbekannten Etwas ein ›gutes‹ Produkt der Natur. Einer der Grundprinzipien des Kapitalismus, das Karl Marx als den Fetischcharakter der Ware so brillant beschrieben hatte, ist um den Fetisch des Zertifikats erweitert worden.
Jemand wie Thilo Bode darf es deswegen als politisches Anliegen verkaufen, mit seiner Organisation Food Watch (»die essensretter«) für eine eindeutige Kennzeichnung aller Lebensmittel einzutreten. Die ›Nährwert-Ampel‹ soll den schnellen Überblick über alle schlimmen Stoffe bieten, denn erst das grüne Licht macht gutes Essen. Das es Menschen gibt, die sich möglicherweise auch vollkommen unabhängig von bunten, durch Ernährungswissenschaftler abgesegnete Signalfarben entscheiden wollen und können, scheint ein überflüssiges Argument zu sein.
Hier trifft sich der Imperativ der Transparenz mit einem Expertentum im Dienst der Aufklärung: Es braucht sie, jene, die uns genau erklären, welchen Lügen wir aufsitzen. Dieses Vorgehen agiert noch ganz nach dem guten alten binären Schema:
›Die da oben‹
– also im wesentlichen Politiker und Konzerne – betäuben uns mit Werbung, der ›wir hier unten‹ natürlich ausgeliefert sind, weil uns die nötigen Kenntnisse abgehen, um derlei Fehlinformation zu entlarven. Allein der Experte und seine Fackel der Erkenntnis kann im Dienste der Aufklärung unser unterbelichtetes Dasein erhellen, und uns die Welt erklären. Und das enthält dann eben auch die lebenswichtige und revolutionäre Botschaft, dass Fertigpizzen möglicherweise viel Fett enthalten.
Trotzdem es ist erstaunlich, wie derlei Aufklärungskampagnen allenthalben begrüßt werden. Denn unverhohlen wird jeder anerkennen, dass man selbst natürlich eigenständig entscheiden kann – man also nicht zu denen da unten gehört –, dass man aber doch berücksichtigen sollte, dass es ja noch Bürger von minderem intellektuellem Niveau gibt, die es zu schützen gilt. Das hat etwas von der bemühten Geste radikaler Atheisten, allen rückständigen, weil gläubigen Menschen vorzurechnen, warum es keinen Gott geben kann. Die Salonfähigkeit einer Haltung, die für jede überflüssige Gängelung einfach die Existenz eines Dümmeren postuliert, für den es schon die richtige Handhabe sein wird, ist immer noch enorm. Deswegen konnte ein Berliner Finanzsenator (ein Freund der Statistiken) auch einst unverhohlen Ernährungstipps an die Sozialhilfe empfangende Bevölkerung ausgeben: Es war nur mäßig empörend, dass man den Leuten nicht zutraute, sich richtig zu ernähren.

Hier, an der Profanität der Ernährung, zeigt sich die ganze Dialektik der Entmystifizierung. Eine Moderne, für die erst wirklich ist, was sich rückhaltlos durch einen Experten – oder einer Zertifizierung – legitimieren lässt, hat sich längst das Denken abgewöhnt. Eine ›Kritik‹, der nichts besseres einfällt, als dieses Projekt unter dem Deckmantel einer offiziell beglaubigten Natur fortzusetzen, befindet sich bloß auf der Flucht vor dem blinden Fleck ihres Ratio-Fetischismus. Daher das zwanghafte Klammern an immer neue Mythen: Es darf nichts Unbekanntes sein.

Category: Magazin, Relevanz

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6 Responses

  1. tiptoph says:

    Macht mir das Lesen dieses exquisiten Artikels gerade eigentlich deswegen Spaß, fühle ich mich gerade genau deswegen zum Weiterdenken angeregt, weil der Artikel ganz offensichtlich von einem Experten geschrieben wurde?

  2. Exquiso says:

    Oh, Tiptoph, du hast den Bann des Expertenzaubers, am eigenen Leibe fühlen dürfen. Und du hast ganz recht, der Artikel ist “exquisit” von Expertenhand. Aber zum Experten: Er erscheint erst auf der Bildfläche, wenn sowieso kaum jemand mehr verstehen würde, was der Wissenschaftler sagte. Experten sind die Ausgeburt einer Öffentlichkeit in der tatsächlich zählt, dass der Beitrag “exquisit”, also ausgesucht worden ist. Diese Selektionsmechanismen varieren wahrscheinlich je nach Medium von bedienbarem Ressentiment oder Dünkel der Leserschaft, wer weiß… Wenn der Dünkel im gleichen Verhältnis auf intellektueller Blasiertheit und pseudokritischer Grundhaltung beruht, kommt ein Artikel wie der oben stehende wahrscheinlich besonders gut an. Expertenehrenwort!

  3. Nerdonia says:

    >Aus dieser sehr optimistischen Perspektive entspringt die breite Begeisterung für Projekte wie Wikileaks, für die jede Form von Intransparenz eine Provokation darstellt.Autoritäre Regime produzieren Widerstand indem sie gegen den Wunsch der Leute nach Wahrheit, Liebe und Selbstverwirklichung angehen. Pläne, die der autoritären Macht helfen, schaffen noch mehr Widerstand, sobald sie bekannt werden. Deshalb werden solche Pläne von erfolgreichen autoritären Regierungen unter Verschluss gehalten, bis der Widerstand vergeblich ist, oder die Wirksamkeit der nackten Macht überwiegt. Diese gemeinschaftliche Geheimhaltung zum Nachteil der Bevölkerung reicht aus, um ihr Verhalten als verschwörerisch zu bezeichnen.<

  4. Nerdonia says:

    mein Beitrag wurde ja mittendrin gekürzt!!!
    er lautete:

    Zitat “Aus dieser sehr optimistischen Perspektive entspringt die breite Begeisterung für Projekte wie Wikileaks, für die jede Form von Intransparenz eine Provokation darstellt.”
    das ist falsch, siehe Assange-Manifesto:
    “Autoritäre Regime produzieren Widerstand indem sie gegen den Wunsch der Leute nach Wahrheit, Liebe und Selbstverwirklichung angehen. Pläne, die der autoritären Macht helfen, schaffen noch mehr Widerstand, sobald sie bekannt werden. Deshalb werden solche Pläne von erfolgreichen autoritären Regierungen unter Verschluss gehalten, bis der Widerstand vergeblich ist, oder die Wirksamkeit der nackten Macht überwiegt. Diese gemeinschaftliche Geheimhaltung zum Nachteil der Bevölkerung reicht aus, um ihr Verhalten als verschwörerisch zu bezeichnen.”
    es geht um die Machthaber, deren Transparenz sichergestellt werden soll,
    die Selbstverwirklichung der einfachen Netizen soll geschützt werden -inkl. Datenschutz und Privatsphäre!!

  5. Nerdonia says:

    das Zitat von Assange steht hier:

    le-bohemien.net/2010/12/09/exklusiv-das-wikileaks-manifest

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